BERLIN (dpa-AFX) - Überlegungen zu Asylverfahren in Drittstaaten wie das britische Ruanda-Modell sieht der Sachverständigenrat für Integration und Migration (SVR) sehr kritisch. "Hier gibt es völkerrechtliche Verpflichtungen, die wahrgenommen werden müssen", sagte der SVR-Vorsitzende Hans Vorländer am Dienstag in Berlin bei der Vorstellung des Jahresgutachtens des interdisziplinär besetzten Expertenrates.
Die Länder verlangen von der Bundesregierung Klarheit über eine mögliche Verlagerung von Asylverfahren in Staaten außerhalb der EU. Nach ihren Beratungen mit Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) im März hatten die 16 Länderchefs die Ampel-Regierung aufgefordert, bei der nächsten Bund-Länder-Konferenz am 20. Juni dazu erste Ergebnisse vorzulegen. Er rechne mit einem baldigen Abschluss der vom Bundesinnenministerium dazu organisierten Beratungen, sagte Vorländer.
Die britische Regierung will Migranten, die irregulär einreisen, keine Gelegenheit mehr geben, einen Asylantrag zu stellen. Stattdessen sollen sie in einen Drittstaat wie Ruanda abgeschoben werden können. Ein Deal sieht vor, dass sie dann dort Asyl beantragen.
Über Migrationsfragen müsse in Zukunft sachlicher gesprochen werden, forderte Vorländer. Es sei falsch, wenn Politiker den Eindruck erweckten, mit Maßnahmen wie effektiveren Grenzkontrollen oder neuen Abschieberegeln ließen sich große Veränderungen bewirken. Er beobachte, dass hier "Erwartungsfallen aufgebaut werden". Der Beschluss zu einer Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems sei ein guter Schritt. Denn neben den darin vorgesehenen beschleunigten Grenzverfahren sehe die Reform auch mehr Solidarität zwischen den europäischen Staaten vor. Entscheidend sei nun, wie sie umgesetzt werde.
Nachfolgeregelung für Ukraine-Flüchtlinge fehlt
Eine rasche europaweite Lösung sollte aus Sicht des SVR - auch mit Blick auf die Europawahl am 9. Juni - für die ukrainischen Flüchtlinge gefunden werden. Die rund 4,3 Millionen Menschen waren zunächst über eine EU-Richtlinie aufgenommen worden und mussten keinen Asylantrag stellen. Diese Richtlinie sieht allerdings nur einen vorübergehenden Aufenthalt vor. Die Bundesregierung sei auch deshalb gegen unterschiedliche nationale Regelungen, weil dies dazu führen könnten, dass Flüchtlinge dann in andere europäische Staaten weiterzögen, sagte SVR-Mitglied Winfried Kluth.
Sollten die rund 1,2 Millionen Menschen, die aus der Ukraine nach Deutschland geflohen seien, alle einen Asylantrag stellen, würde dies zu einer starken Belastung des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (Bamf) führen, führte er aus. Nicht alle ukrainischen Geflüchteten könnten mit einem Schutzstatus rechnen, da immer auch berücksichtigt werde, ob es sichere Orte im Herkunftsland gibt.
Die Aufenthaltserlaubnisse von Geflüchteten aus der Ukraine, die vor dem russischen Angriffskrieg geflohen sind und in Deutschland Schutz erhalten haben, gelten noch bis zum 4. März 2025.
Vier von zehn Schülern haben Migrationshintergrund
Bei der Fachkräftezuwanderung würde Deutschland laut Gutachten besser vorankommen, wenn die Regelungen nicht so kompliziert und die Verwaltungen besser aufgestellt wären. Der Expertenrat urteilt, das deutsche Erwerbsmigrationsrecht sei "mittlerweile so komplex, dass es kaum noch jemand versteht". Wenn Deutschland ausländische Arbeitskräfte effektiv anwerben wolle, brauche es "mehr Mut zur Vereinfachung, um die geltenden Regelungen nach innen wie außen verständlich zu vermitteln".
Am 1. März waren zahlreiche Neuerungen in Kraft getreten, die von der Ampel-Koalition im Zuge der Reform des Fachkräfteeinwanderungsgesetzes beschlossen worden waren. Menschen aus Staaten außerhalb der Europäischen Union können künftig in Deutschland arbeiten, wenn sie mindestens zwei Jahre Berufserfahrung und einen im Herkunftsland staatlich anerkannten Berufs- oder Hochschulabschluss haben. Sie müssen keine in Deutschland anerkannte Ausbildung vorweisen.
In puncto Schulbildung stellten die Expertinnen und Experten fest, dass Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund nach wie vor geringere Chancen haben als Gleichaltrige ohne Migrationsgeschichte. Bei den jungen Menschen der zweiten Zuwanderungsgeneration habe sich die Situation zwar in den vergangenen Jahren verbessert. Für neu zugewanderte Kinder und Jugendliche gelte dies aber nicht. Das hat nach Einschätzung des SVR auch mit den Einschränkungen infolge der Corona-Pandemie zu tun - einer Zeit, wo es noch mehr als sonst auf die Möglichkeit der Unterstützung durch die Eltern ankam und auf Wohnverhältnisse, die ein Lernen zu Hause ermöglichen.
Den Angaben zufolge konnten 2022 rund 61 Prozent der jungen Erwachsenen ohne Migrationshintergrund ein Fachabitur oder Abitur vorweisen und 56,8 Prozent derjenigen der zweiten und folgender Zuwanderungsgenerationen - ein Zuwachs von 4,9 beziehungsweise 7 Prozentpunkten gegenüber 2018. Von jenen der ersten Zuwanderungsgeneration erreichten 2022 demnach weniger als vier von zehn Personen (37,9 Prozent) die Hochschulreife beziehungsweise ein Fachabitur. Von jenen mit einer Fluchtgeschichte gelang dies nur einem Drittel (33,3 Prozent). Die Quoten in diesen Gruppen gingen - anders als bei den in Deutschland Geborenen mit und ohne Zuwanderungsgeschichte - sogar zurück. Im Vergleich zu 2018 war der Anteil im Jahr 2022 um 2,5 beziehungsweise 5,2 Prozentpunkte niedriger./abc/DP/men