Anleger blicken auf ein verlorenes Jahrzehnt der Emerging Markets zurück. Aktien aus den Schwellenländern haben die hochgesteckten Erwartungen nicht erfüllt. Die Gründe dafür sind vielfältig und führen zur Frage: Schwellenländer außen vor lassen? Warum Ali Masarwah, Analyst und CEO des Finanzdienstleisters envestor, diese Frage verneint.
24. Juni 2024. FRANKFURT (envestor). John („Jack“) Bogle, der Gründer des Indexfonds-Spezialisten Vanguard, hatte seine ganz eigene Vorstellung von Diversifikation. Für US-Anleger sei es überflüssig, international zu investieren. Der US-Markt gebe genug an Potenzial her, wer weltweit in Aktien investiere, kaufe zwar mitunter zum Schnäppchen-Preis, aber die niedrigen Kurse von Aktien aus Europa, Japan oder den Schwellenländern reflektierten mutmaßlich deren höheres Risiko.
Dieselbe Frage stellen sich heute viele Anlegende mit Blick auf Aktien aus Emerging Markets. Sind Schwellenländern angesichts der dürftigen Renditen der vergangenen 10, 15 Jahre nicht verzichtbar? Die untere Grafik scheint das nahezulegen. Im Vergleich von fünf Aktien-Indizes liegen US-Aktien (rote Linie) und der MSCI World (hellblaue Linie) weit dem MSCI Emerging Markets (grün) und erst recht China-Aktien (gelbe Linie). Sogar der DAX war zuletzt ein besseres Investment als Schwellenländer-Aktien.
Meine These lautet, dass Schwellenländer einen Mehrwert bringen. Allerdings müssen Anlegende dafür zunächst vier Punkte beachten und dann den fünften beherzigen. Anschnallen, es geht los!
1. Wirtschaftswachstum ist nicht gleich Rendite-Potenzial
Ein hohes Wirtschaftswachstum zieht nicht unbedingt hohe Kapitalmarktrenditen nach sich. Das Fondsmarketing begründet oft die Kaufargumente für Emerging-Markets-ETFs und -Fonds mit dem hohen Wachstum der Ökonomien der Schwellenländer im Vergleich zu entwickelten Ländern. Laut Internationalem Währungsfonds dürften Entwicklungsländer in diesem Jahr ein BIP-Wachstum von durchschnittlich 4,2 Prozent hinlegen, Industrieländer dagegen nur um 1,7 Prozent.
Wer dieser Faustregel gefolgt ist, landete oft bei chinesischen Aktien. Mit unschönen Folgen. Es gibt keinen linearen Zusammenhang zwischen BIP-Wachstum und Aktien-Performance. In diesem Jahrtausend konnten Emerging Markets-Aktien nur bis 2008 überlegene Renditen erzielen; ab 2008 waren Investments in den Industrieländern dagegen dank des Jahrzehnts der Plattform-Ökonomie Made in USA viel ertragreicher. Wer diese erste Erkenntnis gewonnen hat, kann von realistischen Prämissen ausgehen. Wo Performance lockt, ist eine komplexere Frage.
2. Einige Ursachen für schwache EM-Renditen
Zunächst eine Revue der Faktoren, die Anlegenden in Emerging Markets-Aktien immer wieder einen Strich durch die Rechnung machen. Etliche Krisen haben auf die Performance von EM-Aktien gedrückt. Da war zunächst die globale Finanzkrise, die dem Rohstoffboom der Nullerjahre ein jähes Ende setzte. Die US-Zinspolitik hat die Kapitalströme in die Emerging Markets seit 2009 immer wieder durcheinandergebracht. Das hatte verheerende Folgen für Länder mit hohen Leistungsbilanzdefiziten. Die angedeuteten Zinserhöhungen in den USA 2013 stürzten Länder wie Indien, Brasilien, Türkei, Südafrika und Indonesien (Stichwort: Fragile Five) in die Krise.
Manche Länder haben daraus gelernt und sind den Weg solider Finanzen gegangen. Das gilt vor allem für Indien. Andere Länder haben die Lektionen nicht gelernt, etwa Südafrika und bis vor kurzem die Türkei. Wichtiger als rudimentäre BIP-Vergleiche sind Faktoren wie Leistungsbilanzen, Corporate Governance, Marktstruktur, Rechtssicherheit und politische Stabilität. Wer hier die Spreu vom Weizen trennt und differenziert, wird Fallen wie Türkei-Aktien vermieden und Chancen wie Indien wahrgenommen haben.
3. Manche Emerging Markets locken mit Risikoprämien – andere nicht
Das Kurs-Gewinn-Verhältnis sowie alle anderen Bewertungsmaßstäbe weisen günstige Bewertungen bei Schwellenländern auf. Im Schnitt liegt das KGV im MSCI Emerging Markets bei 12 gegenüber 22 beim MSCI World und 26 beim S&P 500. Aber das sind Durchschnittswerte. Ein großer Teil des Bewertungsabschlags bei Emerging Markets Aktien liegt an der Zusammensetzung des Markets. China macht mit einem Gewicht von gut einem Viertel einen großen Anteil am Markt aus. Hier liegen die KGVs bei unter zehn. Dagegen sind Länder wie Taiwan bei KGVs von über 20. Sie sind damit deutlich günstiger als die Aktien im DAX.
Das zeigt, dass die pauschale Annahme, bei Emerging Markets lockten höhere Risikoprämien, falsch ist. Seit dem Angriff Russlands auf die Ukraine und der Verschärfung der Spannungen zwischen den USA und China ist darüber hinaus die Geopolitik zu einem relevanten Faktor für den Investment-Standorte geworden. Wer Aktien aus Demokratien wie Indien, Brasilien und Mexiko eine Prämie zubilligt und bei Diktaturen wie China oder Vietnam einen Bewertungsabschlag fordert, fährt besser als Emerging Markets als eine Einheit zu verstehen, die sie nicht sind.
4. Emerging Markets sind nicht effizient
Fans der Effizienzmarkthypothese und vor allem ETF-Anleger werden das jetzt sehr ungern hören: Viele Emerging Markets sind weniger effizient, als viele vermuten. Darin unterscheiden sie sich von den entwickelten Märkten, in denen Manager aktiv verwalteter Fonds oft keinen Informationsvorsprung haben. Wir haben bereits analysiert, dass ETFs bei Schwellenländer-Investments oftmals gegenüber aktiv verwalteten Fonds im Nachteil sind.
ETFs auf Schwellenländer-Indizes überzeugen selten – ganz im Gegensatz zu ETFs auf den MSCI World, S&P 500 oder MSCI Europe, die oft Bestnoten bei Fonds-Ratings bekommen, haben ETFs auf Schwellenländer-Indizes bestenfalls ein durchschnittliches Rendite-Risiko-Profil. Aktiv verwaltete Fonds können im Vergleich zu ETFs auf die gesamte Breite des Schwellenländer-Universums zurückgreifen, während Schwellenländer-ETFs auf die liquidesten Segmente beschränkt sind. Ein Teil der Emerging-Markets-Prämie lockt auch in illiquiden Aktien. Diese finden sich oft in den Frontier-Märkten. Diese geht für diejenigen verloren, die nur auf klassische MSCI-Emerging-Markets ETFs setzen.
5. Emerging Markets: Performance neu gedacht
Die oberen vier Punkte haben hoffentlich nahegelegt, dass es nachlässig wäre, Emerging Markets aus den Portfolios zu verbannen. Anleger sollten sich die Mühe machen, die Märkte zu verstehen. Ein-Produkt-Lösungen sind kein Allheilmittel, weil sie alles über einen Kamm scheren. Wer auf naiv konstruierte Portfolios (MSCI Emerging Markets) setzt, hat genauso verloren wie diejenigen, die vermeintlich schlaue Lösungen suchen, etwa in BIP-gewichteten Portfolios oder Portfolios, die ganze Märkte pauschal ausschließen (MSCI Emerging Markets ex China).
Wie also mit Schwellenländer-Aktien umgehen? Es gilt deren Heterogenität anzuerkennen und sich dann eine robuste Strategie zu überlegen. Anleger, die an den Primat der Bewertungen glauben, sollten eine Value-Strategie einschlagen. Hier locken Märkte wie China, Mexiko, die Türkei und Argentinien. Sie müssen allerdings Faktoren wie Geopolitik, Willkürherrschaft, Staatsfinanzen und Infrastrukturprobleme berücksichtigen und einen Bewertungsabschlag fordern.
Wer an die Performance von Wachstumsunternehmen glaubt, wird bei hoch bewerteten Märkten wie Indien und Taiwan landen, in denen eine lange Börsentradition bzw. westliche Corporate Governance-Standards vorherrschen. Hohe Bewertungen sind allerdings auch ein Indikator für künftige unterdurchschnittliche Renditen.
Anleger, die wiederum die Eigenheiten der Emerging Markets verstehen, werden illiquidere Märkte ansteuern, etwa Frontiermärkte wie Kasachstan, in denen sich hervorragende Fintechs wie Kaspi wiederfinden.
Flexible Anleger erschließen sich eine weitere, bisher kaum beachtete Performance-Quelle: Die Anleihen-Seite. Viele Zentralbanken haben im Zuge steigender Inflationsraten die Zinsen deutlich erhöht. In etlichen Frontier-Märkten locken daher Zinsen nördlich von zehn Prozent, und auch in den klassischen Emerging-Markets-Anleihen-Benchmarks summieren sich die Renditen auf deutlich über fünf Prozent. Anlegende können mit einer Renten-Strategie bei Emerging Markets die Aktienrisiken reduzieren, ohne dabei Performance-Vorteile aufgeben zu müssen.
Von Ali Masarwah, 24. Juni 2024, © envestor.de
Ali Masarwah ist Fondsanalyst und Geschäftsführer von envestor.de, eine der wenigen Fondsplattform, die Cashbacks auf Fonds-Vertriebsgebühren zahlt. Masarwah analysiert seit über 20 Jahren Märkte, Fonds und ETFs, zuletzt als Analyst beim Research-Haus Morningstar. Seine Expertise wird auch von zahlreichen Finanzmedien im deutschsprachigen Raum geschätzt.
Dieser Artikel gibt die Meinung des Autors wieder, nicht die der Redaktion von boerse-frankfurt.de. Sein Inhalt ist die alleinige Verantwortung des Autors.
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