Zu den wichtigsten Entwicklungen für Schwellenländer-Anleger in den vergangenen Jahren gehört der Aufstieg Indiens. Bemerkenswert dabei ist, dass dieser Aufstieg zugleich von Skepsis begleitet wird – auch wegen einer falschen China-Analogie. Es ist Zeit, sich mit diesem für viele noch immer fremden Investment-Universum zu beschäftigen, empfiehlt Ali Masarwah, Fondsanalyst und Geschäftsführer des Finanzdienstleisters envestor.
15. Juli 2024. FRANKFURT (envestor). Bereits die gängige Bezeichnung von Indien als „Subkontinent“ weckt falsche Assoziationen. Wenn Australien mit seinen 26 Millionen Einwohnern als „Kontinent“ geadelt wird, sollten wir die Übertragung geografischer Begriffe in unsere Alltagssprache hinterfragen. Mit über 1,4 Milliarden Menschen ist Indien das bevölkerungsreichste Land der Erde, und im Gegensatz zu China ist das Wirtschaftswachstum ungebrochen hoch. Wir haben bereits an dieser Stelle auf Tücken und Missverständnisse zu Emerging-Markets-Investments hingewiesen.
Indische Aktien sind mit einem Gewicht von knapp 20 Prozent inzwischen eine Macht im Index MSCI Emerging Markets. Vor zehn Jahren betrug das Gewicht von Indien-Aktien in dieser globalen Benchmark noch weniger als sieben Prozent, und damals sprachen alle nur von China. Heute ziehen Fondsanleger weltweit Gelder aus China- und globalen Emerging Markets Fonds ab – mit einer wichtigen Ausnahme: Fonds für indische Aktien sind für Anleger weltweit der letzte Schrei: Seit März 2023 wurden knapp 30 Milliarden Dollar in Indien-Aktienfonds gepumpt. Das sind Rekordsummen. Das hat Folgen: Inzwischen zählt der indische Aktienmarkt zu den teuersten Märkten weltweit.
Das Paradoxon ist, dass der indische Markt zugleich ein Niemandsland für Investoren aus den Industrieländern geblieben ist. Erst vor wenigen Wochen wurden indische Staatsanleihen in den wichtigen Index JPMorgan Emerging Markets Bond aufgenommen. Zunächst nur mit einem Gewicht von einem Prozent. Doch die Quote wird sich in den nächsten Monaten zügig auf zehn Prozent erhöhen.
Die Frage: Terra incognita oder Hype-Markt zeigt, dass Differenzierung Not tut. Zunächst müssen wir uns von falschen Analogien verabschieden. Dass Indiens Aufstieg mit dem Chinas verglichen wird, bringt Kritiker auf den Plan: Mit deutlich unter zehn Prozent BIP-Wachstum pro Jahr wachse Indien zu anämisch. Doch diese Kritik verkennt, dass China vor 20 Jahren in beispielloser Weise von der Globalisierung profitierte und sich zur Werkbank der Weltwirtschaft aufschwingen konnte. Indien dagegen wächst aktuell mit einer Rate von gut sieben Prozent in Zeiten, in denen Re-Shoring und nicht Globalisierung das Motto vieler Regierungen ist.
Real wächst Indien wie nie zuvor. Ein Grund ist die restriktive Geldpolitik der indischen Zentralbank. Der Zins verharrt bei 6,5 Prozent, obwohl die Inflationsrate mit unter fünf Prozent für indische Verhältnisse moderat ist. Auch wenn das Haushaltsdefizit Indiens im Zuge der Corona-Krise – wie in den meisten Ländern – dramatisch nach oben auf über acht Prozent gesprungen ist, gilt die Regierung Modi nicht als spendierfreudig. Im Gegensatz zu den USA sind nach 2020 keine Schecks an Haushalte für den Konsum verschickt worden, vielmehr wurde der Anteil der Investitionen an den staatlichen Ausgaben gesteigert. Inzwischen ist das Haushaltsdefizit deutlich gesunken und soll 2025 auf rund fünf Prozent zurückgehen. Flankiert wird die investitionsfreudige Politik Modis mit einer konsequenten Inflationsbekämpfung. Diese Linie wird auch nach den Wahlen fortgesetzt.
Indien-Bonds dürften daher den globalen Anleihen-Benchmarks Stabilität verleihen. Auch wenn sie bisher nicht auf dem Radar der meisten Anleger gelandet sind: Es gibt auch für Anleger in Deutschland eine nicht einmal kleine Auswahl an Indien-Anleihen-Fonds und -ETFs. Man muss also nicht zwingend auf die JPMorgan-Benchmark warten.
Wenn es um Aktien geht, müssen Anleger behutsam vorgehen. Die Bewertungen sind aktuell mit einem Forward-KGV von 22 beim Index NSE 500 weit über dem langjährigen Durchschnitt von 16,4. Indische Aktien weisen aktuell eine Bewertungsprämie von 68 Prozent gegenüber dem MSCI Emerging Markets auf. Das ist auch eine Funktion der stetig sinkenden Bewertung von chinesischen Aktien, die noch immer das größte Gewicht in den Emerging-Markets-Benchmarks haben, aber eben nicht nur.
Gehypt werden aktuell Nebenwerte, die von lokalen Anlegern in einer beispiellosen FOMO (Fear of Missing Out)-Welle nach oben getrieben werden. Zugleich werden aktuell Value-Aktien aus den klassischen Branchen Energie, Versorger und Industrietitel hoch gekauft – interessanterweise tragen dazu auch ETF-Investoren aus den USA und Europa bei. Rund zehn Prozent der klassischen Aktien-Benchmarks setzen sich aus staatlichen Unternehmen zusammen, und die profitieren von den Rekordzuflüssen in ETFs.
Indien ist traditionell ein Markt, in dem qualitativ hochwertige Aktien aus den Branchen defensive Konsumgüter, IT, Pharma und Finanzen die beste Performance geliefert haben. Diese Aktien sind im Zuge der Corona-Krise und der gestiegenen Inflation – die Energiepreise sind auch in Indien stark gestiegen – ins Hintertreffen geraten. In den vergangenen 24 Monaten sind zyklische Werte in Indien sowie Nebenwerte teuer geworden, während Quality-Aktien billiger geworden sind - aber eben nicht per se billig. Der Zugang zu indischen Aktien ist komplex, aber die Aussichten sind dennoch gut: Die stetige Entwicklung des indischen Kapitalmarkts, der verbesserte Zustand der indischen Demokratie nach dem Denkzettel für Strongman-Modi bei der Parlamentswahl und die Aussicht auf weitere Strukturreformen sollten Investoren dazu bewegen, sich mit diesem spannenden Markt auseinanderzusetzen.
Von Ali Masarwah, 15. Juli 2024, © envestor.de
Ali Masarwah ist Fondsanalyst und Geschäftsführer von envestor.de, eine der wenigen Fondsplattform, die Cashbacks auf Fonds-Vertriebsgebühren zahlt. Masarwah analysiert seit über 20 Jahren Märkte, Fonds und ETFs, zuletzt als Analyst beim Research-Haus Morningstar. Seine Expertise wird auch von zahlreichen Finanzmedien im deutschsprachigen Raum geschätzt.
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